Mini-Story Nr. 5:
BAD MOON RISING
Kapitel Eins
Ein Blick in den Nachthimmel reichte, um zu wissen, weshalb er nicht schlafen konnte. Der verdammte Vollmond stand über der Fabrik und strahlte ihn höhnisch an. Wenigstens wirkte er, als wäre er dabei vor Scham über seine Schadenfreude errötet. Mit einem eiskalten Corona in der Hand stand er auf dem Balkon und blinzelte den Mond zornig an. Scheiße nochmal, er brauchte dringend ein paar Stunden erholsamen Schlaf.
Die letzten Nächte war es so unangenehm warm gewesen, dass seine Nachtruhe beschissen ausgefallen war und jetzt, wo es endlich angenehme Temperatur hatte, hinderte ihn der blöde Mond daran, erholsame Ruhe zu finden.
Saul seufzte resigniert. Morgen war wenigstens Sonntag, so musste er sich nicht auf Arbeit konzentrieren. Aber es würde ihm kaum gelingen, tagsüber etwas Schlaf nachzuholen. Das klappte so gut wie nie. Er nahm einen Schluck vom Bier, rülpste unterdrückt und blinzelte irritiert. Litt er gerade an einer optischen Täuschung, oder sah er tatsächlich ein Tier auf einem der blöden Türme? Vögel machten es sich darauf immer wieder gemütlich, aber … ein Hund? Ein Fuchs?
Der Fuchs befand sich auf dem mittleren der drei Türme, schien sich umzusehen, ehe er unvermittelt mit einem Sprung auf dem rechten Turm landete und mit einem Satz abwärts auf den nicht einmal halb so hohen Speicher daneben sprang. Saul sah erschrocken zu, wie das Tier über das Dach der Durchfahrt zum Gelände rannte, bis es die türme auf der anderen Seite erreichte und mit einem Satz verschwand.
Das konnte unmöglich ein Fuchs gewesen sein. Er wusste zwar nicht viel über diese Räuber, aber sie waren eher flink als athletisch. Vor bald einem Jahr hatte er einen kranken, vielleicht räudigen Fuchs auf dem Supermarktparkplatz gesehen. In der Nacht, durch die Dunkelheit taumelnd. Und ein anderes Mal war ihm ein Jungtier aufgefallen, dass am Ufer des Stichkanals entlanglief, ehe es im Unterholz verschwand. Füchse waren in der Großstadt gar nicht so selten, wie man meinen mochte.
Verrückt. Hatte er das soeben wirklich beobachtet? Mit dem Schlaf war es jetzt vorbei. Genausogut könnte er jetzt in die Hose steigen und die zweihundert Meter hinüber zur Fabrik schlurfen, um zu schauen, ob er irgendwas sah. Das war völliger Bullshit, das war ihm klar, aber … kein Schlaf.
Da konnte er genauso gut probieren, sich durch einen kleinen Nachtspaziergang zu ermüden. Wenn er schon Füchse auf Speichertürmen imaginierte, wurde es ohnehin rundum kritisch. Also schlüpfte er in Hose und Schuhe und marschierte die zwei Stockwerke abwärts und aus dem Haus raus.
Kapitel 2
Die Luft war angenehm, der leichte Wind kühlte angenehm und der Mond leuchtete heller als die mickrigen Straßenlaternen. Saul schlenderte, die Hände in den Hosentaschen, in Richtung der hässlichen Fabrik. Die Tankwagen, die dort täglich in Dutzendzahl ein- und ausfuhren, lieferten Milch, die hier zu irgendwas verarbeitet wurde.
Saul wanderte außen an der Mauer des Geländes entlang, spähte durch die geschlossene Einfahrt in den Hof, sah aber nichts. Natürlich. Vermutlich hatte er sich die Sache auch nur eingebildet. Manchmal ging die Fantasie mit ihm durch. Offenbar war es jetzt der Fall gewesen – Vollmond, Bier, Übermüdung. Alles dazu angetan, Dinge vorgegaukelt zu bekommen, die nicht da waren. Was für ein Scheiß. Er gähnte. Er brauchte ganz dringend Schlaf.
Zeit fürs Bett. Saul kehrte um, ging Richtung Haus, warf einen flüchtigen Blick über die Wiese zum Stichkanal und erstarrte in der Bewegung. Das Tier stand nur wenige Meter von ihm entfernt und starrte ihn an.
Gottverdammte Scheiße, das war kein Fuchs. Das war definitiv ein Wolf, wie aus einer Naturdoku. Und das war beängstigend. Er hatte keine Ahnung, wie man sich richtig verhielt, wenn man einem Wolf begegnete. Wo kam das Vieh eigentlich her? Und warum … der Wolf sprang ihn an.
Die Wucht des Aufpralls riss Saul von den Füßen. Er spürte die Krallen, die ihm über die Brust fuhren, durch das Shirt die Haut aufschlitzten. Er schlug auf dem Boden auf, als das Blut warm aus den Wunden strömte. Ein ohrenbetäubendes, beängstigendes Knurren hüllte Saul in eine akustische Wolke animalischer Bedrohung, beißender, scharfer Raubtiergeruch schnitt in seinen Geruchssinn, und das Blut aus der brennenden Wunde pappte das zerfetzte Shirt auf seinen Oberkörper.
Schnelles Klacken von Krallen auf Asphalt, dann war der Wolf verschwunden. Saul stemmte sich schwer keuchend und von Angst erfüllt auf die Ellbogen, sah sich um. Er war munterseelenallein inmitten der Großstadt. Fantastisch. Er brauchte ein paar Sekunden, bis er begriff, dass er sich besser in Sicherheit bringen sollte, dann hinkte er schnell heimwärts und verarztete sich.
Kapitel 3
Saul schlief die nächsten Nächte besser, und die schmerzenden Krallenspuren waren so schnell verschwunden, dass er bald vergessen hatte, dass sie real gewesen waren. Seine Träume waren lebhaft, voller blutiger Gewalt und sexuell aufgeladen. Aber am nächsten Morgen war er voller Energie und Tatendrang und deshalb dachte er nicht mehr darüber nach. Zwar plagte ihn eine gewisse innere Unruhe, aber er führte das auf die Energie zurück, die er nicht abbauen konnte.
Er hatte unheimlich viel Sex mit Frauen, aus irgendeinem Grund schienen sie plötzlich magisch zu ihm hingezogen, aber es war nie genug. Er brachte nur mit seinem Kumpel in irgendeinem Lokal sitzen und wurde wenigstens dreimal von Frauen angesprochen. Saul war kein Kostverächter und ihm gefielen viele Frauen und er tat den Teufel, sich diese unerwarteten Angebote entgehen zu lassen.
Nie zuvor war er so begehrt gewesen und nie zuvor hatte er so lange und ausdauernd durchgehalten, bis ein Teil seine Partnerinnen der Nacht nicht mehr konnten. Er konnte sein Glück kaum fassen.
Und er war zweimal fast in eine Prügelei geraten. Das war auch neu, er scheute nicht vor Konfrontationen zurück und hatte nicht im Ansatz Furcht davor, die Fäuste zu ballen. Hätten ihn Freunde nicht zurückgehalten, er wäre eskaliert – mit Freuden. Auf gewisse Weise war das ein großartiges Gefühl, aber nicht minder beängstigend. So kannte er sich gar nicht.
Aber da er nach diesen Zwischenfällen jedes Mal noch tolleren Sex hatte als den ohnehin schon großartigen Sex der letzten Wochen, war er nicht unglüklich über diese Änderung seines Charakters.
Eines Nachts träumte er, er würde sich in einen Wolf verwandeln, vom Balkon springen und entlang des Stichkanals nach Beute suchen. Er träumte, einen nächtlichen Spaziergänger anzufallen und den schreienden, bettelnden Mann mit einem Biss in die Kehle zum Schweigen zu bringen, um ihn anschließend in Stücke zu reißen, das Innere aus dem Körper zu zerren und ringsum zu verteilen, sich darin zu wälzen, und vom bluttriefenden Fleisch zu fressen und dabei voller Wonne den Mond anzuheulen.
Als er zur Morgendämmerung erwachte, war er einige Augenblicke desorientiert. Dann stellte er fest, dass er sich auf dem höchsten der Speichertürme befand, nackt war und mit getrocknetem Blut bedeckt.
Oh Fuck.
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(c) 08/2024 John Aysa. Alle Rechte vorbehalten.
Beitrag veröffentlicht am 04.08.2024 auf JohnAysa.net …
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